Sonntag, 5. Juli 2015

Hotter Than July - TU 2015

Das Verrückte an dem Tag ist, dass gerade die grenzwertig heißen Bedingungen dafür verantwortlich werden, dass es für mich heute hier beim ThüringenUltra kein DNF gibt. Kein Schreibfehler!

Ich laufe nicht den tU, sondern den tU 2015, und das ist ein neues, ein anderes Rennen, Zeiten aus meiner 2014er Erstausgabe werden mehr als egal. An dem Punkt, wo ich unter Normalbedingungen (z.B. in Biel ...) mit Sicherheit gedacht hätte: "Was soll der Quatsch, sich hier weiter zu quälen, wenn Du letztes Jahr 30min schneller warst?  - Das war's dann für heute!", an dem Punkt, wo man nach 70km auch sonst meist schon genug gelitten hat, da sage ich mir heute: "Die restlichen 30 werden hammerhart, aber ich will genau diesen Lauf, den es so wahrscheinlich nie wieder geben wird, zu Ende bringen." Es darf nur nicht kosten, was es wolle. Nein, das nicht. Aber wandern wäre ok.

Verstehen soll und muss das keiner, ich tu's auch nicht.

(c) Mayk Hirschfeld
Für das Überleben in Bezug auf den Lauf und wohl auch im wörtlichen Sinn muss ich vor allem eins vermeiden: Dass mir das Eiweiß in der Birne zu Klumpen stockt. Da oben ist die Schaltzentrale, die muss (am längsten) funktionsfähig bleiben. Eiweißgerinnung setzt bei 42.6°C ein. Wir haben zwar nur so um die 38°, aber das sind Schattentemperaturen ohne weitere Aufheizung durch körperliche Betätigung. Aber bitte - wo ist hier Schatten? - und wie soll ich ohne körperliche Betätigung ins Ziel kommen? Logisch also, dass ich mich trotz der hohen Dichte von VP's, die bis auf zwei Ausnahmen immer unter 6km Abstand haben, mit 2 großen Flaschen in den Vordertaschen auf den Weg mache. Überhaupt - bei dieser Milchmädchen-in-der-erfrischenden-Kühlkammer-Rechnung - "Weniger als 6km zwischen den VPs, das halt ich doch locker durch!" vergisst man nur zu schnell, wie lange man realistisch besonders zwischen km88 und km100 in der dann absolut schattenlosen Prärie für einen einzigen dreckigen KIlometer tatsächlich unterwegs ist ... 

Besagte Flaschen dienen gar nicht vorrangig als Trinkreservoir, sondern als Quelle für die ambulante Dauerdusche. Immer schön nass bleiben, Stichwort: Verdunstungskälte (bzw. eigentlich korrekter: Verdunstungskühlung)! Wir googlen: "Die Verdunstungskälte stellt einen Mechanismus dar, um Landlebewesen vor Überhitzung zu schützen. Pflanzen können bei starker Sonneneinstrahlung ihre Temperatur durch die Verdunstung von Wasser auf den Blättern regulieren und sich damit vor Überhitzung schützen. Diese Abkühlung um mehrere Grad verhindert, dass sich das Blatt auf eine Temperatur erhitzt, die lebenswichtige Enzyme hemmt oder sogar ganz zerstört." Da ich (noch) keine Pflanze bin, muss eben von außen nachgeholfen werden. Scheint auch leidlich funktioniert zu haben.

Wir sind also sozusagen schon mitten im Rennen. Ich bete jetzt hier nicht die vielen Kilometer runter. Es gibt aber natürlich wie immer kurze Momente oder Sequenzen, die sich trotz der Hitze in das Eiweiß einbrennen (uups, Gefahr!). Genau wie letztes Jahr stehen wir bei molligen 20° morgens um 4 mit fast nichts an und nach weniger als 2 Stunden Schlaf bei Vollmond unter dem Startbanner. Gänsehaut rührt maximal von der Angst vor der eigenen Courage (oder ist es doch eher "bewusster Irrsinn"). So extrem unterschiedlich wie die Bedingungen heute morgen im Vergleich zu vor 14 Tagen an der Zugspitze auch sind - die Gedanken sind unglaublich ähnlich. "Geht das?" - "Kannst Du das?" - "Darfst Du das?"
Auf diese Fragen (auch auf die von Andre, der mir als Retourkutsche zu meiner letztjährigen, an ihn gerichteten Denksportaufgabe - sozusagen zur Vermeidung von Langeweile unterwegs - die Beantwortung der Frage, was sein TShirt-Aufdruck 'FUHRC' bedeuten könnte, mit auf den Weg gibt) gibt es die Antworten logischerweise erst etliche Stunden später. Auf eine andere Frage gibt es die Antwort schon jetzt: "Willst Du das?" - "Ja, ich bin neugierig!"

Foto: M. Woitynek

Ich hatte noch rumgeflaxt, dass ich schnell angehen würde, um möglichst viele km noch in der Morgenkühle absolvieren zu können. Bereits im ersten Waldstück, in dem noch die Hitze des Vortages hängt, weiß ich, dass ich hier so schnell rennen kann wie ich will, aber eines nicht erleben werde: Kühle! - Trotzdem bin ich "gut" unterwegs, VP1 und VP2 einige Minuten schneller als letztes Jahr. Bei km 17 steigt dann der Glutstern über die Kammlinie: der Spaß kann beginnen. VP3/21k - diesmal ohne Lautsprecherdurchsage, aber dafür durchgezählte Läufer: "22!" - Wie bitte? - "Aschu, mach keinen Mist! - Auch wenn Du die Startnummern einiger M55er auswendig gelernt hast und die Typen hier um Dich herum tänzeln - lauf Dein eigenes Rennen!"

Mir gefällt die Strecke wirklich noch besser als letztes Jahr. Man erinnert sich an bekannte Abschnitte, man speichert einige neu. Die Sprungschanze bei Brotterode, ist die etwa neu? - Scheisse, diese Rampe bin ich letztes Jahr durchgelaufen, heute wird gewandert. Halt, stop! - Nix Scheisse! - "When you're moving in the positive, your destination is the brightest star." Diese Text-Passage aus einem Stück von Stevie Wonder aus dem Album "Hotter than July" war mir als Mantra für den Lauf zugeflogen. Anders kann man es nicht nennen. Und es ist immer wieder faszinierend, dass man solche Sätze, die garantiert vor einem ziemlich anderen Hintergrund entstanden sind, ohne jegliche Verrenkungen auf einen Lauf beziehen kann. Ja, der strahlende (2.) Stern ist mein Ziel und Bestimmungsort! - Und dazu muss ich nichts tun als mich im Positiven bewegen, das Positive sehen! Und nicht am Negativen festbeißen. Es funktioniert! Der Satz wird mein heiliger Vers, der mir über den gesamten Lauf immer wieder - vor allem eben in den weniger leichten Phasen - in den Sinn kommt, und er bringt mich heil ins Ziel.

7Uhr15, km 32.8
Ich renne die glatt asphaltierte ehemalige Bahnstrecke Richtung "Halbzeit" in Floh-Seligenthal runter. Konzentration! Was brauch ich/will ich aus dem drop bag? Schuhe wechseln? Der Belag der Forstwege war doch deutlich rauher als erinnert, ich komme mit den Pure Connect zwar problemlos klar, aber wären die Pure Flow für die zweite Hälfte nicht doch etwas entspannender? Gels aufnehmen! Hemd wechseln? -- Und ich freue mich wie ein kleines Kind auf den Tunnel, durch den wir müssen. Das wird heute die einzige kühle Oase sein! Ich hatte nur vergessen, wie kurz er ist - 86m, schade. Und so kühl wie erwartet ist es dann auch nicht ganz. Ich nehme mir trotzdem die Auszeit und wandere - eine weitere Ganzkörper-Spritzdusche applizierend - entspannt hindurch.

Ich bin nach 5:27h um 4 Minuten früher an der Kontrolle bei km55 als letztes Jahr. Als gesamt 15.! Dass das nicht so bleiben wird, ist mir mehr als klar. Es zeigt aber bereits jetzt, dass das Feld (überraschenderweise ...) dieses Mal spürbar verhaltener unterwegs ist. Trotzdem hab ich nicht überzockt, sondern bin das gelaufen, was ich stressfrei laufen konnte. Und habe doch ein wenig meiner nicht ganz ernst gemeinten Taktik (früh&kühl möglichst weit kommen), die ja doch vor einem ernst zu nehmenden Hintergrund entwickelt wurde, umgesetzt.

Denn jetzt geht der Spaß richtig los! 1. die Sonne steht inzwischen am mittleren Vormittag ausreichend hoch, um auch von Hochwald flankierte Forstwege zumindest abschnittsweise zu bestrahlen. 2. Ja, ich bin schon ein paar km gelaufen heute. 3. es steht der gut 7km lange und 450hm hohe Rück-Aufstieg auf die Kammhöhe bei der Ebertswiese bevor. - Schnell zeigt sich jetzt der Unterschied zum letzten Jahr, wo es ja mit 26 bis 28° auch nicht gerade kühl war: Ich kann diesmal bis dort hoch nur sehr wenige Abschnitte laufen. Das geht aber allen so. Es gibt kaum Positionsveränderungen. Der allererste Sonder-Spontan-VP (die ja sprichwörtlich für den ThüringenUltra sind). An einer Quelle, fast schon oben am Jobststein, wo trotz der Höhe von gut 600m nichts als heißer Wind aus den Wiesen weht, füllt ein netter Mensch Wasser (kalt!) in eine Gießkanne. Man muss kurz Schlange stehen, um dranzukommen. Ist das geil! Leider nur für 1 Minute.

Runter in den Splittergrund nach Tambach. Fast 9km ohne VP! Brüllheiße Buschflanken neben dem Trail im oberen Bereich. Erste Ansätze von Krämpfen an den Außenseiten der Waden. Vorsicht, das ist ein bißchen früh... Unten im Tal dann das Plätschern des kühlen Baches, dem wir für 4km folgen. Du selbst rennst in der Sonne auf der staubigen Piste. Wann überwinde ich mich, runter zum Wasser zu steigen? Welchen Sinn würde das haben? Die ersten wandern phasenweise - wohlgemerkt bergab in der Top20. Dann die Höchststrafe: das Freibad von Tambach, direkt neben der Strecke. Ich habe bei solch einem Wetter noch nie ein Freibad gesehen, das so leer war. Ich will da rein. Ich will aus dieser Hitze! - Stop, keep moving in the positive!

Vor dem VP hab ich nur einen Gedanken - ein Bier (na klar, ohne!), und - ich bin ja ganz bescheiden inzwischen - das 10° kühler ist als die Außentemperatur. Ein frommer Wunsch. Ich verbrenne mir fast die Lippen an der Flasche. Da hocken die Schatten einiger absolut gestandener Ultras rum, die nicht den Eindruck erwecken, als würden sie noch weiter wollen/können. - Will ich weiter? Nein - ich muss! Irgendwie. Die gut 3km bis zum VP12 laufe ich keinen Meter. Dauert ewig. Egal. Finishen. Ich kenne die Strecke. Gleich dann runter an Finsterbergen vorbei bis zur Straßenquerung, die auch der Jägerstein Ultra berührt. Dann wieder lange hoch, 3. Kontrolle (und 2. Freibad!) vorbei, weiter hoch, dann steil runter, dann moderater immer am Waldrand entlang, bis uns die Strecke bei km88 in die Prärie wirft. Baumlos. Schattenlos. Glühend.

aus dem Gästebuch der TU-Seite
Die Erdbeeren am VP14/km81 in Friedrichroda sind der absolute Knaller. Wiederbelebung! Was für ein Geschmack. Salzerdbeeren. Alles, was ich in den Flossen hatte, schmeckt nach Salz. Ich bin eine Salzkruste. Meine blaue Bade(lauf)hose ist grauweiß. Ich nehme jede Stunde eine Salzkapsel, das kommt mir viel vor. Noch keine Probleme, objektiv betrachtet. Ich weiß, wie ich heiße und kenne die Geburtstage meiner Kinder (wie war noch die Reihenfolge?).

Am VP15, am Rande zur Wüste, haben sie tatsächlich einen Kühlschrank. Sieht jedenfalls aus wie einer. Scheint aber eher zu heizen. Die Leute geben ihr Bestes, aber heute gibt es Grenzen. Grenzen der Technik. Die Natur schafft es noch. Die Quellen sind kühl. Ein älteres Ehepaar erscheint 2 bis 3mal an solchen Stellen, scheint sich an der Strecke entlang zu beamen, füllt "eiskaltes" Wasser ab und spendiert sogar noch darin gekühlte Mineralwasserflaschen. Danke.

Das Ding ist im Sack. Noch 12km. Noch 12 irrsinnige Kilometer, für die ich gut 1:40h brauchen werde. Ich werde unter 12 Stunden bleiben, wenn nichts Elementares mehr dazwischenkommt. Damit wäre ich vollkommen zufrieden. Ich bin gespannt auf VP95km, für den ich über das TU-Gästebuch einen Musikwunsch hinterlegt hatte. "Legs" von ZZTop. Erscheint mir jetzt reichlich schwachsinnig. Die Beine sind nicht das Problem. - Und die freaks da machen es wirklich wahr und entschuldigen sich über Lautsprecher noch, dass das ein paar Sekunden dauern wird mit dem Auflegen. Wie furchtbar, da muss ich ja die letzten 50m bis zum Stand (weiter)gehen! Das ist definitiv ein Haufen absolut Verrückter, der dort stundenlang bei garantiert über 40° Realtemperatur in den Getreidefeldern durchfeiert und der es alleine wert ist, sich diesen Lauf zu geben.

Was folgt, sind Überraschungen: Die lange Gerade (schattenlos) im Industriegebiet von Waltershausen ist in der Realität noch viel länger als in der schon schlimmen Erinnerung aus dem Vorjahr. Und diesmal natürlich heißer. Am Ende, wo es dann runter zur Autobahn-Unterführung geht, kommt mir ein Radler entgegen. Harald, der wegen Verletzung nicht mitlaufen kann, obwohl er dies wohl so gern wie kaum ein zweiter täte. Er ist trotzdem da, er nimmt teil, er hilft. Moving in the positive. Sehr stark. -- Das schreibe ich jetzt. Als er bei mir ankommt, blaffe ich erst mal: "Nee, lass mich bloß in Ruhe, ich bin durch. - Ok, dann erzähl mir was, aber ich kann nicht sprechen." Und er ist Vollprofi. Er hat ja selbst schon so viel mehr durchlitten als ich. Er weiß, wie das geht. Die letzten 2km werden von daher zwar nicht wirklich schnell, aber kurzweilig. - Harald, du hast (schon wieder) einen gut!

(c) SPORTident GmbH
In 11:41 komme ich als 23. gesamt und 3. AK55 in ordentlichem Zustand (denke ich da noch) ins Ziel, habe also gegenüber 2014 auf der zweiten 45km-"Hälfte" ca. 45min "verloren". Das hält sich noch im Rahmen, finde ich.


Die erste Stunde nach dem Zieleinlauf wird plötzlich und unerwartet zu einem mittleren Desaster - objektiv betrachtet. Grausame Krämpfe in den ganzen Beinen, Aufspringen im Versuch, das irgendwie weg zu bekommen. Dadurch wohl Kreislaufüberlastung und Übelkeit (mit allen unappetitlichen Folgeerscheinungen). Sorry an alle, die das mit ansehen mussten. Subjektiv - klingt natürlich jetzt etwas merkwürdig - nehme ich es eher als eine angemessene oder verständliche Reaktion des Körpers auf eine doch wohl unangemessene Gesamtbelastung, und zur Strafe muss ich leider die AK-Siegerehrung auslassen. Ich tu das nie wieder (bei solcher Hitze laufen und eine Siegerehrung auslassen), ich versprech's! Bzw. verlasse ich mich einfach drauf, dass nächstes Jahr beim TU wieder menschlich(er)e Bedingungen herrschen.